Vorrede.

Die „Vorrede“ ist erschienen in der im Mai 2023 erschienenen zweiten Auflage von Eine neue Geschichte der Zukunft.Essays und Leitlinien4Future von Marc Pendzich

In den letzten Jahrzehnten ist viel von sogenannten ‚Sachzwängen‘ die Rede gewesen. Wer Visionen hat, solle doch bitte schön zum Arzt gehen, lautet ein Helmut Schmidt zugeschriebener Satz. Obgleich unbelegt1 fiel dieses Bonmot, das sich wie ein ‚Weiter so‘-Gebot liest, auf äußerst fruchtbaren gesellschaftlichen Boden. Es ging ‚viral‘ zu einer Zeit, als es das Wort noch gar nicht gab2. Zuvor schon wiederholten Margret Thatcher, Ronald Reagan und Helmut Kohl jeweils ‚gebetsmühlenartig‘ die vorgebliche „There is no alternative (TINA)“-Alternativ­losigkeit ihrer von der Steigerungslogik geprägten Politik. Weitere sechzehn lange Kanzlerinnen-Jahre setzte dies – inmitten der längst begonnenen Klima- und Massenaussterbe-Katas­trophe – die vormalige Umweltministerin und promovierte Naturwissenschaftlerin Angela Merkel fort.

Aussagen werden generell mit jeder Wiederholung eingängiger und können schließlich zur ‚gefühlten Wahrheit‘ werden3. Im Ergebnis wurde die wachstumsfixierte Politik immunisiert gegen jegliche Kritik politischer Kontrahent:innen.

Doch tatsächlich sind politische Entscheidungen, der Status quo der Welt und die gesamte Gesellschaft menschengemacht. Was menschengemacht ist, kann vom Menschen verändert werden.

Die Behauptung, nur der eine Weg könne richtig sein, ist vollkommen absurd: Wie sonst – wenn nicht über Veränderung bzw. das Ausprobieren von alternativen Wegen und neuen Ideen – wäre die Menschheit jemals von der Steinzeit zur digitalen Gesellschaft gelangt?

Daher lautet die Botschaft dieses Buches:

„TAALOA – There are always lots of alternatives!“

Nur weil wir Menschen mit bestimmten Gedankengebäuden aufwachsen und mit diesen seit Jahrzehnten leben, bedeutet das noch lange nicht, dass sie auch richtig sind. Möglicherweise waren sie es einmal und sind es jetzt nicht mehr. Vielleicht sind sie nie richtig gewesen. Ob richtig oder nicht – es sind äußerst stabile Erzählungen, die wir Menschen i. d. R. nicht mehr hinterfragen.

Sollten wir aber.

Die Klimakrise und das sechste Massenaussterben sind kon­krete und darüber hinaus äußerst heftige Hinweise darauf, dass die vermeintlichen Wahrheiten rund um die Steigerungslogik des derzeitigen ökonomischen Systems sowie unsere etablierten Lebensgewohnheiten nicht länger haltbar und somit dringend in Frage zu stellen sind.

Für viele Menschen ist bereits das undenkbar. Doch es muss möglich sein, Zukunft offen und neu zu denken.

Dazu haben wir – Autor und Leser:in – uns zunächst auf eine gemeinsame Basis zu verständigen. In diesem Buch gehe ich analog zu meinem Handbuch Klimakrise von folgenden Prämissen aus:

  • Wir Menschen sind Teil des Ökosystems der Erde. Wir sind Erde.
  • Die planetaren Belastungsgrenzen sind unsere Grenzen, die wir zu bewahren haben. Physik schlägt Politik.
  • Eine Beseitigung der Klima- und Aussterbekrise ist bereits nicht mehr möglich. Eine relevante Abmilderung derselben hingegen sehr wohl. Die Menschheit hat derzeit noch die Wahl zwischen Zivilisationsbewahrung und Zivilisationsverlust. Das Zeitfenster ist dabei sich zu schließen.
  • Wir Jetzt-Menschen haben den Planeten von unseren Nachfolgegenerationen nur geliehen. Es bedarf der Generationengerechtigkeit: Wir haben die gleichen Rechte wie die Ungeborenen. Nicht weniger. Aber auch nicht mehr.
  • Die derzeitige Überlebenskrise der Menschheit ist auch Folge des nach wie vor bestehenden Patriarchats: Zur Krisenabmilderung bedarf es der Geschlechtergerechtigkeit.
  • Klimakrise und sechstes Massenaussterben sind Symptome eines gewaltigen Gesellschaftsproblems vornehmlich der frühindustrialisierten Staaten. Die Ursachen dieses Gesellschaftsproblems liegen u. a. in der empfundenen Trennung des Menschen von der Natur sowie der (ökonomischen) Steigerungslogik. Die Lösung der Gesamtherausforderung liegt in einer gesamt­gesellschaftlichen Transformation, die unser aller Leben komplett auf den Kopf stellen wird. Hier gilt: Die Erhaltung der existenziellen Lebensgrundlagen hat eine höhere Priorität als die persönliche Bequemlichkeit und als vorgebliche Gewohnheitsrechte.
  • Die internationale Menschenrechtscharta, die europäische Menschenrechtskonvention sowie das Pariser Abkommen sind völkerrechtlich bindend. Eine solche Verbindlichkeit gilt auch für das bundesdeutsche Grundgesetz inklusive Art. 20a „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere“ sowie für den genau dies bekräftigenden Bundesverfassungsbeschluss vom März 2021.
  • Die anstehenden gesellschaftlichen Herausforderungen sind zu groß, um Demokratie als ein alle vier Jahre stattfindendes Ereignis zu verstehen. Es bedarf eines Updates der Demokratie mit mehr Bürger:innenbeteiligung bspw. durch Bürger:innenräte.
  • Wir Menschen in Deutschland stellen zwar nur rund ein Prozent der Weltbevölkerung. Doch tragen wir als Bürger:innen der weltweit viertgrößten Ökonomie und viertgrößten CO2-Emittentin (seit Beginn der Industrialisierung) eine enorme Verantwortung. Es gibt nur eine Handvoll Staaten, die vorangehen können. Deutschland ist einer davon.
  • Hinzu kommt, dass wir Bürger:innen in Deutschland seit Jahrzehnten drei Erden statt einer Erde pro Jahr ‚verbrauchen‘. Künftig steht uns Menschen in Deutschland in diesem Sinne genau eine Erde zu. Ein Weniger ist somit erforderlich, was mit der beschriebenen Steigerungslogik des bisherigen ökonomischen Systems unvereinbar ist.
  • Die Art, wie Geld derzeit ‚funktioniert‘, führt dazu, dass bei der Abwägung von Ressourcenschonung und Naturerhalt auf der einen Seite und finanziellen Interessen auf der anderen Seite i. d. R. letztere überhand nehmen. Auch Zertifikate und Siegel können dies i. d. R. nicht verhindern. Am Schluss ‚gewinnt‘ regelmäßig ‚das Geld‘. Das bedeutet, dass Geld/Kapital künftig anders (nämlich ökologisch) funktionieren muss, wenn wir Menschen unsere existenziellen Lebensgrundlagen bewahren möchten.
  • Ohne die Länder bzw. die Menschen des globalen Südens ist eine relevante Abmilderung der Klima- und Massenaussterbekrise nicht machbar.
  • Die Länder bzw. die Menschen des globalen Südens können und werden nur dann bei einer gesamtgesellschaftlichen globalen Transformation mitmachen, wenn die Menschheit sich als solidarische Schicksalsgemeinschaft begreift. Das bedeutet die Erfordernis globaler Klimagerechtigkeit und markiert für die Menschen der frühindustrialisierten Staaten das Ende der HöherSchnellerWeiter-Lebensweise.


Sollten Sie bereits hier größere Einwände erheben, ist das selbstverständlich Ihr gutes demokratisches und rechtsstaatlich geschütztes Recht. Ich lade Sie ein, trotzdem weiterzulesen: Wie stehen Sie bspw. zu dem Text „Der Markt regelt das!“ ()?

Wenn Sie allerdings auch diesem Text so gar nichts abgewinnen mögen, dann rege ich an, die Sache abzukürzen: In diesem Fall ist das Buch nichts für Sie. Ich würde mich freuen, wenn Sie sich entschließen könnten, es weiterzugeben – Ihr:e Nächste:r findet hier möglicherweise das, was sie:er bislang vergeblich gesucht hat. Danke!


Sie sind noch da. Das freut mich. Sehr.

Schön, dass wir einen grundlegenden Konsens miteinander haben. Nehmen wir uns also den Raum und die Zeit und denken in diesem Buch einmal die Zukunft neu:

Es bedarf des Aufspannens eines neuen Möglichkeitsraums, der Möglichkeit, neue Gedankengebäude zu entwerfen sowie offen, grenzenlos und utopisch zu denken, ohne dass dies von der Gesellschaft von vorneherein als prinzipielle Nicht-Möglichkeit verworfen wird.

Das Jetzt ist das Resultat des Gestern. Das stete ‚Weiter so‘ hat uns genau dorthin gebracht, wo wir heute stehen: Wir stehen am ökologischen Abgrund. Unsere Lebensgrundlagen sind existenziell bedroht. Ökologische Verwerfungen gehen erwartbar mit sozialen Verwerfungen einher. Ein ‚Weiter so‘ führt absehbar in den globalen Zivilisationsverlust. Denken wir in den Kategorien Naturerhaltung, Lebensschutz, Generationen-, Geschlechter- und Klimagerechtigkeit, dann gilt: Alles ist besser als ein ‚Weiter so‘.

Es geht mittlerweile nicht mehr nur um die Frage, wie die Zukunft aussehen könnte. Es geht darum, als Menschheit überhaupt eine auf zivilisatorischem Boden gründende Zukunft ha­ben zu können. Es geht um Zukunftsermöglichung.

Wenn also irgendetwas alternativlos sein sollte, dann ist es die Notwendigkeit, die Dinge neu zu denken und in ein neues, anderes Handeln zu überführen. Ist dies einmal akzeptiert, ist die Zukunft offen. Sodann sind eine ganze Reihe alternativer Möglichkeiten gegeben, die Zukunft zu gestalten.

Dazu möchte dieser Essayband Denkanstöße geben.


Menschen erleben ihre Welt in Geschichten und Erzählungen. Deshalb fordern Aktivist:innen schon seit vielen Jahren ein neues ‚Narrativ‘, welches den Menschen ein neues Selbstbild geben könne, sodass sie mitziehen mögen bei der Gestaltung der Zukunft. Das ist m. E. etwas simpel gedacht. Doch sicher ist richtig, dass es entgegen des TINA-Zeitgeistes einer TAALOA-Inspiration zugunsten eines neuen Selbstverständnisses der Menschen bedarf. Daher habe ich mich auf den Weg gemacht, ein solches ‚Narrativ‘ – von mir als ‚Grunderzählung‘ bezeichnet – zu entwerfen:

Der titelgebende Essay ist eine neue Grunderzählung über uns Menschen selbst. Die bisher weitverbreitete alte Geschichte, die wir Menschen in den frühindustrialisierten Staaten seit Jahrzehnten, wenn nicht seit Jahrhunderten uns über uns selbst erzählen – HöherSchnellerWeiter – führt ins Aus. Viele Menschen können sich schlimme Dystopien – vgl. Blockbusterfilme – leichter vorstellen als unkonkrete Utopien, die ich als zukunftsoffene Möglichkeitsräume bezeichne. Mein Vorschlag für eine solche neue Grunderzählung über uns selbst hat keinen Anspruch an ein ‚Genauso wird es sein‘. Sie ist ein Anstoß und eine Anregung, sich selbst Gedanken zu machen und auf diese Weise überhaupt erst einmal offen zu werden für die inspirierende Idee ‚Alles könnte anders sein‘.

Und: Vielleicht inspiriert Sie ja der Essay „Eine neue Geschichte der Zukunft“ zu einer eigenen neuen Grunderzählung? Das würde mich freuen, dann hätte ich bereits alles erreicht, was ich erreichen möchte.

Die weiteren Essays dieses Buches stellen vorrangig zugespitzte Versuche dar, die Situation, in der wir Menschen uns mittlerweile befinden, in wenigen Worten auf den Punkt zu bringen. Wichtig dabei ist, stets im Kopf zu behalten, dass die derzeitige Lage der Menschheit im Wesentlichen darauf gründet, wie und auf welche Weise insbesondere wir Bürger:innen der frühindustrialisierten Staaten – auch Sie und ich! – die Welt zugerichtet haben.

Letzten Endes geht es darum – wie es auf Seite 39 heißt – ‚die Sache‘ einmal wirklich zu Ende zu denken: Wenn wir unsere Lebensgewohnheiten, die enormen gesellschaftlichen Ansprüche des HöherSchnellerWeiter des globalen Nordens sowie die Steigerungslogik der derzeitigen Ökonomie mal zu Ende denken, dann wird sehr schnell und glasklarst offensichtlich, dass das nicht funktionieren kann auf einem begrenzten Planeten mit einem äußerst feingesponnenen und seismografisch empfindlichen Web of Life, dessen unmittelbarer Bestandteil wir Menschen sind und dessen Schicksal wir teilen.

Einige Sätze, Fakten und Informationen tauchen mehrfach im Buch auf: Sie lesen meine Versuche, mittels verschiedener Ansätzen das gleiche noch besser und zutreffender auszudrücken.

Der vorliegende Essayband schließt mit den Leitlinien4Future, die aus Zitaten, Gedanken und Aphorismen bestehen. Diese können uns sowohl persönlich und individuell als auch politisch-gesellschaftlich als Anhaltspunkte und Inspirationen für eine zukunftsfähige Lebensführung und eine Politik der gesamtgesellschaftlichen Transformation dienen. Wie immer gilt: Greifen Sie sich gerne heraus, was für Sie passt. Alles andere lassen Sie einfach beiseite.

Zur Abrundung finden Sie ganz am Ende des Buches noch den Songtext meines im Jahr 2023 erschienenen Songs „Wenn ich die Zeit los bin“. Dieser beschreibt das Lebensgefühl, wenig zu brauchen, um ganz bei sich zu sein: Ich rege an, Überkonsum als Selbstablenkung oder -betäubung zu sehen. Weniger ist mehr… Und: Lebe lieber langsam – Wir können Zeit nicht sparen, wir müssen sie bewusst erleben, damit wir wirklich leben.


Dieser Text ist zuerst in der im Mai 2023 veröffentlichten zweiten Auflage von Eine neue Geschichte der Zukunft.Essays und Leitlinien4Future von Marc Pendzich erschienen.


Quellen und Anmerkungen zu Vorrede.

1 vgl. Patalong 2023. Es ist davon auszugehen, dass diese Aussage so nie von Helmut Schmidt getroffen wurde. Patalong mutmaßt, dass „der Satz zu seinem Zitat [wurde], weil es so gut zu ihm passte.“ – Quelle: Patalong, Frank (2023): „Stammt dieser berühmte Satz wirklich von Helmut Schmidt?“. In: Der Spiegel, 19.02.2023, online unter https://www.spiegel.de/geschichte/helmut-schmidt-stammt-das-zitat-wer-visionen-hat-sollte-zum-arzt-gehen-wirklich-von-ihm-a-4b6c0556-6a28-4440-aa92-e512c0dbb44b (Abrufdatum 14.03.2023) [paywall].

2 Interessanterweise wird das Zitat, welches angeblich von 1980 stammen soll, erst seit ca. 1999 – inmitten des etablierten TINA-Zeitgeistes – regelmäßig medial aufgegriffen und mit Helmut Schmidt verbunden (vgl. Patalong 2023).

3 vgl. Lührsen, Wolfgang u. Pendzich, Marc (2023): SPRACHE MACHT ZUKUNFT – Ein klimagerechtes und zukunftsfähiges Vokabular. vadaboéBooks @ BoD u. Website sprache-macht-zukunft.de.